Heike und Jan

(habselig)

Die Stadt Berlin, in die Heike nach den vielen Wochen bei der Mutter zurück¬kehrt, ist in ihren Gedanken nicht viel mehr als eine graue Fläche, um die eine rote Grenzlinie gezogen ist, die der ICE irgendwann einmal überfahren wird, um dann in der Mitte des grauen Fleckes zu halten.

Im Zug erlaubt Heike ihrem Denken nur ausgewähltes Gelände: Sie überlegt, wieder mit dem Stricken anzufangen. Einen warmen Pullover mit Zopfmuster für sich, einen gestreiften Schal für Jan. Oder dicke Socken. Sie denkt über verschiedene Arten von Apfelkuchen nach. Später versucht sie sich zu erinnern, wie man Windbeutel zubereitet. Heike achtet darauf, in ihren Gedanken die Bezirke von Kuchen und Handarbeit nicht zu verlassen, nirgendwoandershin zurück und nirgend¬wo¬anders¬hin in die Zukunft zu denken. Draußen schluckt die Dämmerung die Farben.
Es ist nach Mitternacht, als der Zug endlich einläuft – nicht über eine rote Linie, nicht in einen grauen Fleck – sondern zwischen Altbauten hindurch in ein Neonlicht wie abgestandener Zigarettenrauch, drumherum anthra¬zitgraue Bahnhofs¬archi¬tektur. Sie sieht seinen Rücken im ver¬trauten Parka, an ihm die alte, rote Umhängetasche. Sekunden später finden seine Augen sie in der Waggontür und seine Gestalt wird Leben, winkt und läuft. Jan.

Heike ist glücklich in diesem Moment.

Sie ist auch glücklich, als sie im Flur ihrer gemeinsamen Wohnung steht. Die Gegenstände leuchten überschwänglich, wie zur Begrü߬ung: Der abgebeizte Bauernschrank, die grüne Art-Nouveau-Lampe, ihr taillierter, pflaumen¬farbener Sommermantel, das weiß lackierte Garderoben¬gestänge: handzahme Dinge aus duftigem Material, und alle die ihren. Mit Entzücken betrachtet sie die Stücke, zählt sie sie wieder neu zu ihrem Besitz. Dass es all das gibt und die Wohnung und ein Leben, das darin wohnt und auf sie wartet! Dass Jan mehr ist als eine machtlose Stimme am Telefon. Aus ebenso realem Material wie die Bodendielen und die Espresso-maschine. Sie hatte es völlig vergessen.

Heike hatte nur für zwei Wochen zur Mutter fahren wollen. Doch dann hatte sich der Zustand der Mutter verschlechtert, und dann war es noch viel schlimmer geworden, und dann war die Mutter gestorben, und dann hatte Heike mit ihrer Schwester die Beerdigung vorbereitet, und dann war die Beerdigung. So waren es schließlich sieben Wochen geworden, die Heike in der Stadt der Mutter zubrachte.

Mit vorsichtiger Fröhlichkeit sitzt sie jetzt am Küchentisch mit Rotwein und Aufschnitt, und Rosen am Fenster. Jan gegenüber. Wie gut das Olivenbrot schmeckt, das er für sie im Bioladen geholt hat. Wie leicht ihr die Worte kommen, wenn er ihr zuhört. Wie schön es ist, zu ihm zu sprechen. Im Schein der Kerzen kann sie zusehen, wie jeder ihrer Sätze in Jan hineinfällt, dort nachfedert, um sogleich als Blick, als Bewegung der Brauen oder als halbes Lächeln zurück-zukommen.

Ihre Augen finden von selbst zum rechten Zeitpunkt in seine Augen hinein und an seinen Augen vorbei. Auch wenn Heikes Berührungen noch tollpatschig sind in ihrem zu-schnell und zu-früh, sie darf über seinen Arm streichen, wie über eine ge¬schwungene Stuhllehne, und er lächelt darüber.

Wie übernah Jans Gesicht ist.

Er ist erleichtert, Heike kann es sehen. In den letzten Tagen war sie am Telefon ein Klumpen Traurigkeit gewesen. Sie hatte befürchtet, sie werde sich heute Abend als Klumpen an seinen Hals hängen. Sie hatte gehofft, er sei gewappnet, um den Klumpen aufzurichten oder zumindest auszuhalten. Aber alles ist anders zwischen den hand¬warmen Möbeln: An diesem Abend ist sie kein Klumpen, sondern ein ernster Schelm. Fröhlich wie der Esstisch. Heute sucht sie keine starke Schulter, nur seine Augen und einen Streifen warme Haut; später dann die rechte Art sich ins eigene Bett zu betten und probeweise die eigenen Glieder auszustrecken.

Gern auch neben den seinen. Gern auch in die seinen hinein.

Heikes Tote

(Bayern)

Am Ende muss jeder zu sich nach Hause.

Einmal tot, wird Heike sich im Haus der Ahnen wieder-finden. Die Ahnen, Landvolk mit roten Backen, haben ihr schon ein Stübchen hergerichtet: das Bett bezogen, Seife hingelegt. Sie haben eine Brotsuppe für Heike auf dem Herd. Da wird Heike nun bleiben müssen: Zwischen weiß gekalkten Wänden, unter niedrigen Decken, hinter geklöppelten Spitzen. Der Bauernhof, klein von außen, klappt sich innen aus und aus, noch eine kleine Stube und noch eine und wieder eine hinter rot-weiß karierten Vorhängen. Stuben um Stuben für Ahnen und Urahnen und Aberahnen. Ein rot-weißer Setzkasten für die Sippe.

Die Ahnen warten aufgeräumt im Warmen. Sie sind brave Leute. Ewige Hausarbeit und gemachte Betten. Ein Schauder überkommt Heike, ob der Generationen von Bauern, die auf sie warten. Das Heu, auf dem sie schlafen, zerkratzt Heikes porzellanweiße Haut. Der Ahnen Hemden sind grob wie ihre Hände, wie ihre Scherze. Ihr Leben war genügsam und schwer, und Heike fürchtet, dass sie abschätzig auf Heikes Milchstrudelleben und ihren feinen Intellekt schauen. Auch wenn sie das nicht zeigen vor lauter Lächeln.

Denn die Ahnen lächeln unausgesetzt ein nachsichtiges Lächeln, das den Lebendigen gilt, ein gerührtes Elternlächeln: Mitgefühl und leiser Spott zugleich über die unsinnigen Schwierigkeiten der lebenden Nachkommen. Keine harten Worte im Bauernhaus, nicht einmal ein böser Blick, und wozu auch: Heike wird ihr Bett machen, sie wird klöppeln, und die Böden scheuern. Dazwischen wird sie Kaffee trinken aus dem guten Geschirr, Stunde um Stunde. Was auch sonst tun, im ewigen Bauernhaus? Es hat keine Tür, um hinauszugehen.

Und die Mutter? Die Mutter, die so anders lebte als ihre Eltern, die studiert hatte und aus der Kirche ausgetreten war und um keinen Preis auf dem Land hatte leben wollen? Wenn Heike kommt, wird die Mutter längst Teil des Bauernhauses geworden sein. Sie wird dasselbe Lächeln lächeln und dankbar sein, dazuzugehören. Gewiss, sie wird sich über Heikes Ankunft unbändig freuen: Sie wird gucken, dass Heike eine schöne Stube und einen großen Schöpfer Suppe extra bekommt. Doch sehr bald schon werden sie beide einfach neben den anderen Ahnen sitzen. Schnell wird Heike nichts Neues mehr zu erzählen haben. Alle Geschichten, die die Ahnen ja alle sowieso schon beobachtet haben, werden auserzählt sein. Von diesem Moment an wird Heike zurückstehen müssen. Sie wird wohl oder übel mitlächeln mit dem ewigen Lächeln, das den Lebendigen gilt. Sie und die Mutter werden nichts anderes zu tun haben als auf die Nachfahren starren. Wie die Ahnen werden sie über sich selbst hinweggehen.

(der blaue Tod)

Heike will nicht ins Dachkammerl einer bayrischen Ewigkeit ein¬ziehen. Sie will nicht neben Mägden und Knechten sitzen und den Lebenden in die Schlafzimmer starren. Heike, könnte sie wählen, würde anders wählen. Sie würde den Eistod wählen: Die Unend¬lichkeit frisch und weit. Sie würde die unermessliche, tiefblaue Himmelskuppel wählen. Sie wählte sich einen schnur¬geraden Horizont, der sie als Kreis umgibt. An den Rändern des Himmels wird sein tiefes Blau in ein durchsichtiges Taubengrau blenden. Heike wird in der Mitte einer schimmernden, türkis¬grünen Eis¬fläche stehen, die bis ans Ende aller Welten reicht; glatt und unberührt ist die Oberfläche, unter ihr schwankt der ewige Ozean. Die Schlittschuh an Heikes Füßen hinterlassen Bögen auf dem blanken Eis; sie wird Pirouetten drehen, sie wird tanzen zum Stillstehen der Dinge. Ein Hauch eines Wehens, ein Lüftchen eines Lüftchens spielt mit ihrem Haar, und ist der letzte Gruß der Welt, in der es Andere gibt. Dies ist der blaue Tod: Eine Ein¬samkeit, die hart genug ist, um der Tod zu sein. Ein Ort, der ihr befiehlt, sich ins Klare zu öffnen und absolut zu werden. Ein Punkt, den man im Leben nicht finden kann; man würde, lange bevor man ankäme, an Depression sterben.

Und danach will Heike eine Wahl und noch eine Wahl und wieder eine Wahl. Bitte, bitte, bitte!

Heike, ein halbes Jahr später

(unter Menschen)

Heike sitzt auf ihrem Sofa und streicht mit der Hand über die Kissen, die sie aus Mutters Wohnung mitgebracht hat: Es ist ein edler japanischer Stoff, dunkelblau mit eingewebten grauen Chrysanthemen. Die Mutter liebte Kunsthandwerk aus Japan. Heike hat die Kissen auf ihr taubenblaues Sofa gelegt und eine Photographie der Mutter auf die Anrichte gestellt. Sie hat Mutters japanisches Teegeschirr in Verwendung genommen und ihren Holzschnitt mit dem wogenden Meer im Schlafzimmer aufgehängt. Doch es hat nur sechs Wochen gedauert, und schon fallen die Kissen, das Teegeschirr und der Druck Heike nicht mehr ins Auge. Die Dinge stehen und liegen genauso herum wie all ihre anderen Dinge. Heike muss sie von nahem ansehen, muss sie anfassen und sich ganz auf sie konzentrieren, damit sie ihr wieder zu Mutters Sachen werden. Wenn die Sachen wieder zu Mutters Sachen geworden sind, ist es Heike für einen Moment möglich, wieder in die Athmosphäre von Mutters Haus und Mutters Sein einzutauchen.

Nur selten kommt Heike dazu, die Dinge der Mutter genau anzugucken. Denn die Welt, die Heike und Jan gemeinsam bewohnen, ist voll: Stühle, Tische, Töpfe, Bücherregale, Nachbarn, die Redaktion, Theaterabende, Bürostühle, ihre Kollegen und seine Kollegen, Radtouren, Geburtstagsfeste, Abendessen, Freunde und Freundinnen. Überall ist jemand. Immer ist etwas zu tun. Indes vergeht die Zeit, hast Du nicht gesehen, als Ursache und Wirkung, als Arbeit und Termin, als Abwasch und Butterbrot. Die Umstände wiegen Heike in den Schlaf. Der Wecker weckt sie. Die Dusche wartet und das Frühstück, ihr Müsli und sein Kaffee, die Zeitung und die Anrufe, die zu machen sind. Und schon läuft der Tag und eins ergibt das andere bis zur späten Nacht, bis sie wieder einschlafen.

Dieses Leben besteht aus Momenten, die nicht enden können, solange sie währen. Aus Augenblicke, in denen sich nichts ändern kann, bis man aus ihnen herausfällt. Solange sie dauern, kann nichts einbrechen, wird nichts durch die Decke brechen, wird das Böse nicht ausbrechen.

(über Wasser)

Heike taucht vollständig in ihrem Leben ein. Nur alle paar Wochen einmal passiert es, dass sie hochtaucht, den Kopf aus dem Wasser hebt und verwundert auf ihr Leben zwischen den Dingen und Menschen hinunterblickt. Am meisten überrascht sie jedes Mal, dass sie nicht öfter auftaucht, dass sie solange ohne Unterbrechung unter Wasser geschwommen ist. Denn jedes Auftauchen ist ein Moment der Erleichterung und einsamen Freiheit; so als sei alles möglich und sie endlich ganz und gar wach.

Mit dem Kopf über dem Wasser sieht sie, dass Mütter in ihrer und Jans Welt nur als Bild auf dem Regal vorkommen. Jans Mutter lebt noch und ist für ihn schon heute nur noch Kindheitserinnerung und Sonntagsbesuch mit Kuchen. Das soll er machen, wie er denkt. Aber Heikes Mutter ist für Heike auch nicht viel mehr als eine Reihe von Anekdoten und ein Foto. Das ist falsch. Das muss sich ändern. Doch es ist Heike selbst, die nicht weiß, wie sie der toten Mutter einen Platz in ihrem Leben geben soll.

Heikes Vater ist ein moralischer Mensch, immer grübelnd, immer zweifelnd, aber durchaus humorvoll. Mit dem, was er am Ende kopfschüttelnd sagt, hat er häufig Recht. Er liebt die Naturwissenschaften, das Meer und das Segeln. Seine zweite Frau liebt er sowieso. An der Meinung des Vaters kommt Heike nur schwer vorbei. Sie denkt ihn mit, wenn sie über ihr eigenes Leben nachdenkt, und das gerade dann, wenn sie das gar nicht möchte. Auf diese Weise hat er Gewicht in Heikes Leben.

Als die Mutter noch lebte, war ihr Gewicht noch größer. Sie war ein Fixpunkt in Heikes voller Welt, den Heike immer anschwimmen konnte. Bei der Mutter gab es Apfelkuchen und Trost. Bei der Mutter war Heike notwendigerweise liebenswert, und Fehler, die Heike machte, waren immer nur Ausrutscher, die leicht korrigiert werden konnten. Bei der Mutter stand fest, dass Heike wunderbar war. Heike glaubte es manchmal sogar selbst. Heike kann diese Sichtweise der Mutter nicht mehr mitdenken. Am Anfang hatte sie hier und da versucht, sich vorzustellen, was die Mutter sagen würde. Doch das, was Heike einfiel, klang schal, es fehlte der Schwung der Mutter, ihre feine Ironie, ihr freundliches Grinsen. Vielleicht liegt es daran, dass ihre Mutter einen solchen Optimismus und eine so uneingeschränkt gute Meinung von Heike hatte und Heike beides leider nicht aus vollem Herzen teilen kann.

Wenn sie mit der Mutter zusammen gewesen war, war Heike anders als mit Jan. Sie sprach mit einer anderen Stimme, sie sagte andere Sachen und sie lachte anders. Wenn man genau hinsieht, ist Heike auch mit dem Vater anders, mit ihrer Schwester und mit jedem einzelnen ihrer Freunde. Doch am auffälligsten war ihre Verwandlung bei der Mutter, Jan jedenfalls bemerkte sie nur bei ihr. Ihn hatte dieses andere Ich von Heike immer irritiert. Es war ihm unheimlich gewesen. Umgekehrt hatte die Mutter mit dem Jan-Ich von Heike ebenfalls nicht viel anfangen können. Obwohl Jan ihre Mutter gemocht hatte und die Mutter ihn, waren die beiden doch auch immer Gegenspieler gewesen, die versuchten, Heike in ihre Richtung zu ziehen. Heike hatte Jan gegenüber immer ein schlechtes Gewissen gehabt, wenn sie zu sehr in ihr Tochter-Ich gefallen war. Sie war immer schnell in ihr Jan-Ich zurückgekehrt, das zu ihm und ihren gemeinsamen Freunden soviel besser passte. Jetzt würde Heike sehr gern wenigsten hin und wieder in ihr Tochter-Ich zurückschlüpfen, doch sie kann es nicht mehr finden.

Das nächstbeste ist, allein zu sein und den Kopf über das Wasser zu bekommen. Heike möchte hinaussteigen aus ihrem Unterwasserleben, und sich und Jan und ihre Leben von außen ansehen. Bis sie wieder weiß, wer sie ist mit der toten Mutter und wer sie sein will. Bis sie die Konturen sieht. Bis sie weiß, ob ihr Leben einfach so weitergehen darf. Bis sie die Königin der Metaebene ist: Eine Frau, die von außen glasklar sieht. Sie überlegt, wie das gehen könnte: Sie könnte zunächst einmal allein für ein Wochenende aufs Land fahren oder am besten gleich für eine ganze Woche. Kurz denkt sie, dass sie in eine eigene Wohnung ziehen sollte, um in aller Ruhe nachdenken zu können, um tatsächlich einmal genug Abstand zu gewinnen, um von außen auf ihr gemeinsames Leben zu sehen.

So denkt Heike jetzt auf dem Sofa. So denkt Heike auch in den nächsten Monaten und Jahren immer mal wieder, und jedes Mal mit aller Kraft.

Dann taucht sie wieder unter und schwimmt mit Jan und Freunden und Kollegen zwischen Stehlampen und Monitoren und Straßenbahnen durch die Stadt.