Alle kraulen alle – Denkfiguren für Milliondemokratien

Vortrags-Performance

Demokratische Gebilde funktionieren unterschiedlich, je nachdem ob sie hunderte, tausende oder Millionen von Menschen umfassen. In dieser Arbeit geht es um Phantasien und Denkfiguren, mit denen wir über unsere Millionendemokratien nachdenken. Insbesondere interessiert mich, mit welchen Vorstellungen wir mit der Indirektheit umgehen, die die Größe dieser Demokratien mit sich bringt.

Wie sind die Einzelnen mit ihren Repräsentanten verbunden? Wie performen sie ihre Teilhabe? Wie gestalten sich die gegenseitigen Streicheleinheiten zwischen den Mitgliedern der Demokratie , die für jede Gemeinschaft nötig sind? Wie gehe ich mit den täglichen Nachrichten um, die mich überfordern, aber angehen? Ist Schuld ein demokratisches Gefühl, weil es die anderen repräsentiert?

Aufgeführt unter dem Titel: Die Affen kraulen bei “Am Nerv der Demokratie – Philosophie-Performance-Festival”, Leipzig 2019 sowie bei „Leipzig denk“ 2022.

 

Anfang anhören (5 min):

 

 

Zwei Szene zum lesen:

Du und der 80-millionste Teil des Busses

Du spaziertest durch Deine Stadtviertel und sagtest Dir bei jedem Linienbus, der an Dir vorbeifuhr: Dies ist auch mein Bus und ich bin für ihn verantwortlich.
Und bei jeder Schule bliebst Du stehen und sagtest Dir: Dies ist auch meine Schule und ich bin für sie verantwortlich. Es fühlte sich etwas künstlich und doof an, aber auch ganz gut.

Du dachtest, dass die Parks und die Behörden und die Straßenbeleuchtung und die Müllabfuhr vor Leben vibrieren würden, wenn alle so wie Du durch die Straßen liefen und sich mit den Dingen verbänden. Welche Freude es wäre, ein Busfahrer oder ein Lehrer oder eine Finanzbeamtin zu sein und den ganzen Tag mit all dieser Lebendigkeit zu tun zu haben.

Aber dann kamst Du Dir doch bescheuert vor und gingst nach Hause. Dort faltest Du alle Deine Socken nach der Marie-Kondo-Methode, damit wenigstens Deine Socken belebt wären. Du konntest nicht darauf warten, dass Deine Mitmenschen die anderen 80 Millionen Bruchteile aller Busse und Straßen und Schulen mit Leben füllten.

 

Du und die Universen

Du warst verzweifelt. Denn Du wusstest nicht, wie die Menschen miteinander sprechen und gemeinsame Lösungen finden könnten, wenn sie sich nicht mehr auf ein gemeinsames Fundament von Fakten einigen könnten. Diese Fakten müssten nicht komplett wahr sein, das wären sie ja sowieso nie, aber gemeinsam müssten sie sein. Du wünschtest Dir, dass alle wieder die Tagesschau gucken würden. Du wünschtest Dir vor allem, dass alle der Tagesschau wieder glauben würden. Dafür müssten sie sie nicht einmal sehen.

Doch das würde wohl nicht passieren. Und so ertapptest Du Dich dabei, dass Du Dir wünschtest, dass die Menschen, die an andere Fakten glaubten als Du, hinüber wanderten in ein Paralleluniversum, wo ihre Fakten wahr wären. Es wäre so schön, wenn sich die Universen tatsächlich trennten und die Menschen, die den anderen Fakten glaubten, durchsichtig würden und dann ganz langsam verschwänden.